Brotfabrik, Frankfurt, 19.12.2022
Glatteis! Drei Schritte, und ich lag schon darnieder. Ausweichen wollend, weil die Gehwege vor den Nachbarhäusern nicht ausreichend mit Splitt überzogen waren, fand ich mich nun zwischen zwei am Straßenrand geparkten Autos wieder, mit Blick Richtung Himmel. Nur meinem, mit Kamera sowie ausgerechnet Leergut gefüllten Rucksack hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht mit dem Kopf auf den Bordstein schlug. Aber er funktionierte noch, im Gegensatz zu meinem ohnehin sehr fragilen Bein. Sollte ich also zurückkrabbeln in meine Wohnung, die Verletzung kühlen und allen Verpflichtungen des Tages Adieu sagen, zumindest, bis die rutschige Seuche den Kampf gegen die versprochene Temperaturerhöhung verlor? Was die Lohnarbeit anging hatte ich da recht wenig Hemmungen, so etwas zu tun. Aber das Konzert am Abend: Der Abschluss eines fulminanten Konzertjahrgangs, der mit KING HANNAH in der Brotfabrik im April begann und nun mit der Multiinstrumentalistin A.A.Williams am selben Ort ihr Ende nehmen sollte. Die A.A.Williams, wegen der ich in der Vergangenheit bereits Tickets für Köln buchte, einmal im Verbund mit CULT OF LUNA sowie BRUTUS (war toll) und einmal mit den japanischen Post-Rock-Meistern MONO (was leider nicht klappte). Und das noch zusammen mit Karin „Dark Diva“ Park, die mit ihrem Gatten Kjetil “Tall Man” Nernes ÅRABROT betreibt, darüber hinaus jedoch unter ihrem eigenen Namen Electro-Pop mit gelegentlicher Nähe zur Avantgarde fabriziert. Ibu 600, wenn ich euch je gebraucht habe, dann heute.
Mit dieser Hilfe stand ich den Tag durch, arbeitete verkürzt auf Sparflamme und kratzte pünktlich zur Öffnungszeit um 17 Uhr an der Tür des zur Brotfabrik gehörenden Restaurants KP21 Open Mind. Mittelmeerküche mit veganen Optionen versüßte mir die nächsten zwei Stunden, zum Teil in unmittelbarer Nachbarschaft der später auftretenden musikalischen Akteure. Auch der Soundcheck ist in diesem Etablissement ganz gut mitverfolgbar. Nicht nur wegen der hervorragenden Speisen dort ein Tipp zur Abendgestaltung, wenn man später den Konzertsaal der Brotfabrik besuchen möchte. Die Pflastersteine auf dem Gelände waren trotz fortgeschrittener Stunde immer noch recht glatt. Mir graute ein wenig vor dem Rückweg, falls es wieder frieren sollte.
Im pünktlich geöffneten Konzertsaal landeten schließlich geschätzt etwa 60-80 Menschen. Sie wurden Zeugen des besonderen „Bühnen“-Aufbaus des Special Guest Karin Park, der eben nicht auf der Bühne, sondern davor in einem Kreis aus diversen Synthesizern und leuchtenden Riesenbällen verortet war. Dezenter Dunst hing schon im Saal, noch bevor irgendwelche Nebelwerfer eingeschaltet worden waren. Eine Post-Rock- bzw. Black Metal-Illumination sollte mal wieder vorherrschen, wie eigentlich inzwischen fast immer, wenn ich für diesen Blog einen Bericht bebildern möchte. Bei Park kam diese aber noch nicht im ganzen Ausmaß zur Wirkung. Sie betrat um kurz nach acht Uhr ihre kleine Festung und winkte wortlos die Gäste zu sich heran. Zwei Songs später lud sie verbal dazu ein, noch näher zu kommen. „The worst part of covid is over.“ rechtfertigte sie diesen Schritt, was man durchaus anders sehen kann, aber gut: Maximale Nähe zwischen Künstler*innen und Publikum, darüber hinaus ohne jede Überhöhung – das hat schon was.
Vor einigen Wochen brachte Park ihr Album „Private Collection“ heraus, auf dem neu arrangierte und eingespielte Stücke zu finden sind, die sie größtenteils bereits auf einem ihrer anderen sieben seit 2003 veröffentlichten Longplayer zugänglich machte. Stücke wie z. B. „Opium“, im Original von 2015, gewinnen auf dieser neuen (in ihrem Homestudio in einer entweihten Kirche in Schweden, in der sie samt Familie lebt, aufgenommenen) Platte enorm an Eindringlichkeit. Mit ihrer ebenso variablen wie glockenklaren Stimme und den bisher meist verwendeten Beats wirkte Park oft wie eine moderne Popsängerin, die Anschluss an entsprechende Global Player sucht, ohne jedoch ihre Eigenständigkeit besonders herauszuarbeiten. Schöne Musik, der der letzte Kick häufig noch fehlte.
„Verletzlicher“ nennt Distorted Sounds diese Neubearbeitungen und trifft es ganz gut (mehr dazu hier). Verletzlicher auch diese Art des Auftritts auf Augenhöhe mit den Zuhörenden, die ihr von Anfang an gebannt an den Lippen hingen. Meiner Wahrnehmung nach stolzierten am Ende mehr Leute aus dem Saal mit Karin Park-Vinyl unterm Arm als dem von A.A.Williams. Hilfreich war da sicher die eindeutige Ansage Parks, dass Musizierende wie sie „fucked“ seien, wenn niemand Merch kauft. Ab „Tokyo By Night“ mutierte der Gig zwischenzeitlich zur Techno-Disco, bei der mancher Gast den massig vorhandenen Platz abseits zum Eskalieren nutzte. Abgeschlossen wurde der Auftritt nach 45 Minuten doch auf der Bühne, in Begleitung einer mehr als 100 Jahre alten Kirchenorgel aus dem Fundus der Künstlerin. „Auch diese Orgel spielt heute zum ersten Mal in Frankfurt“ gab sie zu Protokoll, um danach einzuschränken: „Soweit ich weiß.“ Ein grandioser Opener, der jede Menge neue Freunde in Frankfurt erworben hat.
A.A.Williams gehört zu den Künstlerinnen, deren Karriere durch Covid gnadenlos ausgebremst wurde. 2019 veröffentlichte sie eine erste EP, die in vielerlei Versionen existiert und deren längere Ausgabe ihre Kernkompetenzen gut absteckt: Zum einen ihre melancholischen, düsteren wie schweren Eigenkompositionen, von denen einige („Belong“, „Control“) noch immer in ihrer Live-Setlist auftauchen. Des Weiteren ihre Fähigkeit, sich vorhandene Stücke anderer Musiker*innen zu eigen zu machen.
Besagte EP offenbart z. B. eine Version von Dolly Partons‘ „Jolene“, die in ihrer Sadness den Song nicht nur korrekt verortet (im Gegensatz zu den meisten anderen Versionen des zigmal gecoverten Werkes), sondern meiner Meinung nach als die definitive Interpretation angesehen werden darf. Parton eingeschlossen. Verklagt mich doch. Leider spielt sie davon anscheinend nichts mehr; zumindest in Frankfurt war das nicht der Fall, da verließ sie sich komplett auf eigene Kompositionen. Davon gibt es inzwischen, nach zwei weiteren Longplayern, genug. Und mit Covern ist sie nach der pandemischen Livepause wohl ebenso erstmal durch (eine Sammlung davon wird hier besprochen).
Im Frühjahr 2020 hätte A.A.Williams europaweit für die SISTERS OF MERCY eröffnen sollen, aber Ihr wisst ja alle, was dann geschah. Ihre erste LP erschien, dann die oben angesprochene Coverplatte. Weitere Touren wurden geplant, etwa mit MONO, die erst nach etlichen Verschiebungen irgendwann stattfanden. In der Zwischenzeit kam die nächste LP „As The Moon Rests“, die nun auf ihrer ersten Tour als Headliner beworben wurde. Ihr zur Seite standen dabei ihr Gatte und Bassist Tom Williams, Schlagzeuger Wayne Proctor sowie ein weiterer Multiinstrumentalist: Matthew de Burgh Daly an Gitarren und Keys. Man kennt ihn eventuell von MAYBESHEWILL.
Mit sieben oder acht Stücken wurde der Fokus dann auch ganz klar auf Songs der neuen Platte gelegt, die eine stilistische Fortführung gegenüber dem Vorgängeralbum „Forever Blue“ beinhalten. Williams selber im Promo-Schreiben dazu: „’As The Moon Rests’ ist gleichermaßen heavier und softer; es gibt mehr Struktur und Gewicht – und ein Streich-Ensemble. Es ist „’Forever Blue Times’ mal zehn.“ Williams und ihre Jungs haben ihre Klangnische gefunden, die auch ohne Streich-Ensemble fantastisch funktioniert: Doomiger Post-Rock, weit weniger aggressiv als etwa bei den Kumpels von CULT OF LUNA, jedoch ebenso weniger verspielt als z. B. MAYBESHEWILL.
Ein Song wie „The Echo“ könnte ebenso von MONO sein, würde bei denen öfter gesungen werden. Die beiden Stücke der ersten EP sowie zwei der ersten LP fügten sich nahtlos in diese Performance ein. Auf der Bühne zumindest wirkte Williams komplett anders als ihr Vorprogramm Karin Park – letztere offen und einladend, erstere introvertierter sowie verschlossener (und zunehmend genervt von uns Fotografen, wenn wir ihr zu nahe kamen). Mitreißende Auftritte boten beide, Einladungen zum persönlichen Austausch nach der Show wurden ebenso von beiden offeriert.
Von Williams nach knapp 85 Minuten Spielzeit, die sie wie viele Künstler*innen heutzutage zugabenlos, aber mit entsprechender Ansage, vollzog. „Socializing“ – ein Teil der Arbeit von Musizierenden anscheinend, der bestimmt nicht allen gleichermaßen leicht fällt. Ich machte davon allerdings keinen Gebrauch, der Konzertabschluss des Jahres war bereits äußerst befriedigend gewesen. Nachdem die Wirkung der Schmerzmittel verflogen war und der Umfang meines maladen Sprunggelenkes sich vervierfachte war klar, dass dies definitiv ein solcher Abschluss war. Man hätte sich dafür kaum einen schöneren Abend wünschen können.
Links: https://www.facebook.com/karinpark, https://karinpark.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Karin+Park, https://www.arabrot.com/, https://www.aawilliamsmusic.com/, https://www.facebook.com/aawilliamsmusic, https://aawilliams.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/A.A.+Williams
Text & Fotos: Micha
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