GRAVE PLEASURES, KONTINUUM, JESSICA93

Das Bett, Frankfurt, 1.10.2015

Grave PleasuresUnfassbar viel Hype und Geschiss gab es 2013, als das Album „Climax“ von BEASTMILK erschien. Der Dreher, hergestellt von Musikanten mit Black Metal- und Neofolk-Historie, erwies gleichermaßen Respekt für die Wurzeln des Postpunks und des Gothic-Rocks (also JOY DIVISION, THE CURE, SISTERS, etc.) und nicht für das, was heutzutage zwischen Mittelaltermarkt und WGT herum schlumpft. Und er schaffte es ebenso, sich im Hier und Jetzt zu verorten – also in keiner Weise in irgendeiner Form „Retro“ zu sein. Ein Kunststück, an dem so manch andere Fans dieser Musik, zum Beispiel auch am gestrigen Abend im Frankfurter Club „Das Bett“, grandios scheitern. Doch der Siegeszug währte nur ein Jahr.


Zwischen den Nikolaustagen 2013 und 2014 tourte das Quartett pflichtbewusst wie Bolle, riss dabei alle coolen Festivals wie u. a. das Roadburn ab und hinterließ ausnahmslos begeisterte Zuschauer und Kritiker. Sony Music zeigte Grave PleasuresInteresse, szeneübergreifend wurde abgefeiert. Doch dann implodierte das Ganze. Zwischenmenschliche Spannungen zwischen den Hauptakteuren Mat McNerney (unter seinem Szenenamen Kvohst eine Hausmarke bei Bands wie DøDHEIMSGARD, CODE oder HEXVESSEL) und Johan „Goatspeed“ Snell (über den man im Internet nur die Nachricht findet, dass er BEASTMILK verlassen hat, sonst bleibt er ein großer Unbekannter) sorgten dafür, dass Letzterer wieder ins Nirwana abtauchte und Kvohst den Neustart vollzog – mit Protagonisten anderer gehypter Formationen, denen ähnliches widerfahren ist.

Gitarristin Linnéa Olsson (nicht zu verwechseln mit Linnea Olsson ohne Accent, die gibt es auch), schon in der letzten BEASTMILK-Besetzung dabei, ging aus ähnlichen Gründen bei den kurzlebigen THE OATH; der neue Schlagzeuger Uno Bruniusson (aktuell noch bei PROCESSION) musste die Grave Pleasuresgroßartigen IN SOLITUDE nach drei Alben und viel Aufsehen unter Fans und Kritikern nach Auflösung derselben verlassen, wie sie BEASTMILK erfuhr. Live dabei (aber übelst verschattet und deswegen hier nicht dokumentiert) war noch der Gitarrist Juho Vanhanen von ORANSSI PAZUZU und den Bass bediente der schon bei BEASTMILK aktive Valtteri Arino. Der Name von BEASTMILK 2.0: GRAVE PLEASURES.

Ein erneutes Debütalbum wurde bei Sony veröffentlicht, Kvohst und Linnéa gaben überall Interviews – der Metalpresse, Indie- und Goth-Magazinen. Während gerade im Black Metal die „trven“ Fans schnell dabei sind, Grave PleasuresGrenzgänger wie LITURGY oder DEAFHEAVEN als „Hipster“ oder „Scheiße“ abzutun, regt sich keiner über GRAVE PLEASURES auf, was für den Respekt spricht, der den Akteuren entgegengebracht wird. Mit der zeitgemäßen Verwurstung alter Dark Wave-Einflüsse klappt das aber nicht mehr so zwingend wie bei „Climax“ – der GP-Erstling „Dreamcrash“ wirkt hektischer zusammengestückelt. Gute Songs sind vorhanden, allerdings wenige, die auf Anhieb so ins Hirn und Bein fräsen wie die meisten auf „Climax“. Dass das live trotzdem gut funktioniert, bezweifelte vor der freudig erwarteten Show kaum jemand. Außer mein Kollege Marcus. Dieser wurde aber vor dem Auftritt der multinationalen Gruppe mit Sitz in Finnland ein wenig gequält.

Der Opener JESSICA 93 entpuppte sich als ein Solist, der mit Hilfe diverser, durch Pedale abzurufender Voreinspielungen so tat, als wäre er eine Band. Das Jessica93kann fantastisch daherkommen (wie beispielsweise bei den vor ASIWYFA aufspielendem MYLETS), hatte aber im Fall des auf der Bühne stehenden und sich redlich abmühenden Franzosen einen merkwürdigen Beigeschmack. Nicht, weil die meisten Zuhörer Schwierigkeiten hatten den kreativen Teil des hauptsächlich Bass, aber auch Gitarre spielenden Akteurs anzuerkennen, sondern weil das Songmaterial neben ein paar gefälligen Soundwänden extrem langweilig war. Kein Aha-Effekt, nichts Besonderes – Berieselung aus der Konserve wäre auch kaum anders aufgenommen worden. Respekt für die Performance: durchaus. Aber deswegen kauft keiner später den Tonträger.

Anders lief es danach bei den Isländern KONTINUUM. Die BEASTMILK- und GP verschmähende Encyclopaedia Metallum verzeichnet diese unter „progressive Post-Black Metal“ – davon habe ich auf den beiden Tonträgern, die ich mir nach dem Auftritt zulegte, leider nichts gehört. Der toughe Fünfer Kontinuumbedient sich meiner Meinung nach eher an Sounds, die an CASSANDRA COMPLEX oder RED LORRY YELLOW LORRY erinnern, nur eben minus der Originalität, die diese Bands in den Achtzigern hatten und die BEASTMILK in die Gegenwart retten konnten. Als stimmungsvolle Anheizer vor dem Hauptact und Soundtrack zum Biertrinken war die Combo aber sehr zu gebrauchen, wurden die Songs der beiden Alben doch einen ganzen Zacken schärfer und exzessiver performt. Legendenalarm sieht allerdings anders aus. Muss ja auch nicht immer.

Kann aber. BEASTMILK, HEXVESSEL und IN SOLITUDE gehör(t)en zu meinen absoluten Lieblingsbands der letzten fünf Jahre, wieviel würden GRAVE PLEASURES davon transportieren können? Die etwa 80-100 Anwesenden im Grave PleasuresSaal inspirierten das Quintett nicht zu einem Auftritt, der in ihrer Welt besonders Eindruck machte – im Gegensatz zu den Gigs in Budapest oder Berlin war der in Frankfurt keinen Kommentar auf Facebook oder Twitter wert. Die Formation haute eine Stunde lang ihr Set runter, professionell und schneller gespielt, Sänger Kvohst betrieb ein bisschen Höflichkeitskonversation mit dem Publikum, welches nicht darauf reagierte. Allerdings tanzte der Bär, die Anwesenden waren auf die für Rhein/Main- typische Weise exzessiv verzückt, die Begeisterung eher durch stille Bewunderung zum Ausdruck bringt. Ein Phänomen, welches meist zur Folge hat, dass unsere Region auf der nächsten Tour ausgespart wird oder die Band als Special Guest eines größeren Acts Grave Pleasureswiederkommt. Dabei strafte das Set alle Skeptiker Lügen – GP-Songs wie „Futureshock“ (Clip dazu weiter unten) oder „Girl in a Vortex“ funktionierten ebenso gut wie die live mehr abgefeierten „Love in a Cold World“ oder „Death Reflects Us“ vom BEASTMILK-Album. Vielleicht werden diese nach einem weiteren Release von GP weniger bis gar nicht mehr gespielt, was schade wäre. Vielleicht taucht auch der verschollene Johan „Goatspeed“ Snell nochmal mit einer anderen Version von Grave PleasuresBEASTMILK 2.0 auf. Im Januar 2016 ärgern mich GP mit dem Tatbestand, dass sie Europa mit den genialen TRIBULATION betouren (nächstgelegener Halt zur Rhein/ Main-Region: Nürnberg oder Kassel), was den Frust über die hiesigen Vorbands mächtig in die Höhe treibt. Doch wir hatten sie, wenig inspiriert, wenigstens eine Stunde lang. Und diese eine Stunde war für mich eine der Livesternstunden 2015. Absolut großartig.

Links: http://jessica93.com/, https://www.facebook.com/thejessica93, https://jessica93.bandcamp.com/, https://www.reverbnation.com/jessica93, http://www.last.fm/de/music/Jessica+93, https://www.facebook.com/kontinuumice, http://kontinuum.bandcamp.com/, http://www.last.fm/de/music/Kontinuum, http://gravepleasures.tumblr.com/, https://www.facebook.com/gravepleasvres, https://myspace.com/beastmilkeverywhere, http://beastmilk.bandcamp.com/, http://www.lastfm.de/music/Beastmilk

Text, Fotos & Clips: Micha

Alle Bilder:

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