THE AFGHAN WHIGS

Batschkapp, Frankfurt, 26.07.2022

The Afghan WhigsDas Konsumverhalten der Konzertgänger in der aktuellen Saison, die von einigen realitätsfern als „Post-Covid“ geframed wird, ist voller Widersprüche. Einige Events, vor allem sehr große, platzen vor Gästen und verzeichnen Zuschauerrekorde. Andere, vor allem kleinere, deren Veranstalter finanziell deutlich erschütterter durch die letzten beiden Jahre mussten als die großen Player, sagen ihre Festivitäten kurzfristig ab wegen mangelndem Kartenabsatzes im Vorverkauf. Oder beobachten zähneknirschend, dass ein gewichtiger Teil der verkauften Tickets sich nicht in den Besucherzahlen niederschlägt. Wenn 25 Prozent der Käufer zuhause bleiben, sieht das in Deinem Lieblingsclub halt schon anders aus als in der Festhalle. Kaum etwas erscheint planbar im Angesicht einer – so nicht erwarteten – „Sommerwelle“.

Wenn zum Einlass beim Konzert einer nicht gerade reputationslosen Band aus den Vereinigten Staaten dann gerade mal exakt 15 Menschen vor der Batschkapp stehen, kann man sich schon mal ein paar Sorgen machen über den Ablauf des Abends. Einlass 19, Beginn 20 Uhr stand auf der Homepage – doch wann kamen The Afghan Whigsdie ersehnten Akteure auf die Bühne? Etwa um 21.20 Uhr. Vorher – und das schienen die meisten, später doch relativ zahlreich erschienenen Gäste irgendwoher gewusst zu haben – gab es bloß Musik aus der Konserve. Von einem DJ, der seinen Job so gut machte, dass er der Meute, welche die durch einen Vorhang halbierte Halle letztlich noch ansehnlich füllte, sogar einiges an Applaus abtrotzte. Auch zu seiner eigenen Überraschung.

Doch war das eine perfekte Einstimmung? Läuft Musik vom Band vor Konzerten der Formationen von Greg Dulli, also neben den AFGHAN WHIGS z. B. vor den TWILIGHT SINGERS, dann ausschließlich Soul. Alter Soul von Labels wie Atlantic, Motown oder Stax. Das ist kein Zufall. Dulli, dessen AFGHAN The Afghan WhigsWHIGS komplett unter seiner Ägide agieren, ist Fan solcherlei Töne, die seine Mutter ständig zuhause auflegte – und das hört man auch in seiner Musik. Ja, die AFGHAN WHIGS sind eine Band mit Gitarren. Sie sind weiß, sie veröffentlichten auf dem Label Sub Pop und schwammen mit der Grunge-Welle, aber sie klangen auch immer extrem schwarz, was vor allem an der unfassbar bewegenden, souligen Stimme von Dulli liegt. Und natürlich an vielen Arrangements, gespeist von Dullis Faszination für The Afghan WhigsSoul, R&B und Hip-Hop. Ist das kulturelle Aneignung? Ich habe bezüglich Dulli bisher noch nichts von solchen Vorwürfen gelesen – wundern würde mich da aber nichts.

Der DJ hielt sich dagegen mit Dullis Vorlieben nicht weiter auf und analysierte recht treffend den Geschmack des Publikums – Menschen in den Dreißigern bis Fünfzigern, die ihren Indie-Rock feierten in alten wie neueren Ausdrucksformen. In der ersten Stunde beatlastiger und weiblicher, in der letzten eher erhaben für die Menschen mit schwarzen Bandshirts. Mit Künstler*innen drauf wie MOTHER TONGUE oder Emma Ruth Rundle. Guter Geschmack, coole Musik. Die Töne zwischen dem DJ-Set und der Live-Band offenbarten jedoch eher Greg Dullis Präferenzen jenseits des Rock’n’Rolls weißer Machart, der ja ebenso geil ist und auf schwarzen Traditionen fußt. Also ebenso The Afghan Whigskulturell angeeignet. Ich gebe zu, ich verstehe dieses Phänomen bisher nur in Teilbereichen.

Ebenso wie Dullis Verhältnis zu Gott, dem wir in Deutschland gerne das Adjektiv „lieber“ gönnen. Warum auch immer. Doch der US-Rolling Stone hat eine einleuchtende Erklärung, wie, wann und warum Dulli in seinen Songs über Gott redet (und das tut er nicht selten): „Seeing God is more carnal than religious when Dulli sings about it“ (Gott zu sehen ist eher fleischlicher Natur als religiös, wenn Dulli darüber singt). Beim Konzert in der Batschkapp ging diese, beinahe anti-esoterische Haltung zu Gott sogar soweit, dass er „Heaven On Their Minds“ coverte – das Stück, in welchem Judas in der von Andrew Lloyd Webber komponierten Rock-Oper „Jesus Christ The Aghan WhigsSuperstar“ Zweifel an der Wirksamkeit der Methoden des „Heilands“ formuliert. Und die ihn schließlich zum Verrat führen. Webber hat in dieser Oper die Motive von Judas Iskariot verdeutlicht und nachvollziehbar gemacht, ebenso wie seine Seelenpein. Wer „Jesus Christ Superstar“ gesehen oder gehört hat weiß, dass er nicht zwangsläufig der „bad guy“ in dieser Geschichte ist.

Covern, das macht Dulli generell gern – häufig wenig überraschend Soulstücke. Nicht nur die Klassiker, sondern ebenso obskures Zeug. Meistens nicht komplett gespielt, sondern in einer Synthese mit seinen eigenen Werken. Doch zuerst The Afghan Whigsmusste der Road Manager (mit IRON MAIDEN-Shirt: das konnte Zufall sein oder Tribut darstellen an die zeitgleich im Stadion spielende Metal-Legende) obligatorisch den Menschen im Auditorium erklären, was auf gar keinen Fall beim folgenden Konzert geht: „Let me tell you about the use of Flashlight. There is none.“ Kurz und knackig. Dabei hat Dulli, ungleich zu z. B. Jack White, heutzutage kein Problem mehr damit, fotografiert oder gefilmt zu werden. Er hofft allerdings jedes Mal, dass die Besucher seinen Auftritt nicht nur durch die Linse verfolgen. Nachvollziehbar. Dulli lässt jedes Mal emotional die Hosen runter, die Vokabel „Leidenschaft“ ist die, die am häufigsten über seine Projekte verwendet wird, auch in der Vergangenheit von mir (siehe hier).

The Afghan WhigsDas neue Album der Whigs erscheint am 9. September, drei Titel wurden jedoch bereits vorveröffentlicht. „I’ll Make You See God“ war der Konzertopener – das Thema Gott hatten wir bereits. Mit fünf Songs wurde „In Spades“ von 2017 besonders gewürdigt, eines von Dullis Lieblingsalben aus seiner Diskografie. Die Band bestand hauptsächlich aus alten Weggefährten wie dem stoischen Bassisten John Curley (Dulli: „My Brother“), dem Schlagzeuger Patrick Keeler, dem Multi-Instrumentalisten Rick Nelson (Dulli: „An Gitarre, Keyboard, Violine und jedem Instrument, welches man ihm vor die Füße wirft“) sowie dem neu von BLIND MELON hinzu gekommenen Gitarristen Christopher Thorn. Man hatte in den knapp 75 Minuten des Auftrittes nicht den Eindruck, jemand hätte The Afghan Whigssich davon gelangweilt, im Gegenteil: Nelson war sowieso extrem beschäftigt an seinen Instrumenten, musste darüber hinaus Dulli noch das Handtuch reichen, als der sich ans Piano setzte und kurz vorm Eskalieren stand.

Das Internet ist voll von Geschichten, wie Greg Dulli reagiert, wenn ihm etwas nicht passt; doch seitdem er auf harte Drogen, Alkohol und Zigaretten weitgehend bis komplett verzichtet geht es eigentlich. Er quittierte den Handtuchwurf seines Kollegen lachend, bevor er sich in das emotional bewegende Eigen-Cover „Teenage Wristband“ am Piano vertiefte – ein Song seiner Zweitband THE TWILIGHT SINGERS, deren Gitarrist Dave Rosser 2017 starb. Dulli brachte das Stück in Gedenken an ihn und vielleicht auch an andere Bekanntschaften, wenn The Afghan Whigser „You want to go for a ride / I got 16 hours to burn and I’m gonna stay up all night“ intoniert. Mit weniger Soul in Stimme und Sound wäre das fast Cock-Rock. Ist es wahrscheinlich auch, aber einer von der guten Sorte. Nicht so von oben herab, kommandierend oder abwertend, wie man es aus dem Hard-Rock kennt.

Auch Dullis erstes Solo-Album kam zu Ehren, als „The Tide“ gespielt wurde. Dazwischen und danach gab es Klassiker wie „John The Baptist“ oder „My Enemy“ – das Publikum war entzückt und wollte nicht wahrhaben, dass US-Künstler inzwischen diese Euro-Gepflogenheit mit den Zugaben immer weniger beachten und am Ende der Show einfach gehen. Nach knapp 75 Minuten war The Afghan WhigsFeierabend, das Volk johlte noch lange erfolglos nach mehr. Glaube ich. Falls doch noch was kam, was ich verpasste, bin ich für einen Eintrag unten bei den Kommentaren dankbar. Doch auch zugabenlos waren diese 75 Minuten mit weitem Abstand das Bewegendste, was ich in diesem Jahr bisher live erleben durfte. Auch der Meister war zufrieden, wie er am Ende mitteilte: „We had a blast!“. Danke, ich auch.

Links: http://theafghanwhigs.com/https://www.facebook.com/TheAfghanWhigsOfficial, https://theafghanwhigs.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Afghan+Whigs

Text & Fotos: Micha

Alle Bilder:

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