MOTHER TONGUE & WEREWOLF ETIQUETTE

Colos-Saal, Aschaffenburg, 24.11.2025

Mother TongueIch mag sehr, sehr viele Musikschaffende und Bands aus den verschiedensten Genres. Wenige liebe ich allerdings so sehr wie MOTHER TONGUE aus L.A. (beziehungsweise ursprünglich Texas). Damit stehe ich nicht alleine: Gerade in Deutschland wird diese Liebe von relativ vielen Menschen geteilt. Und ohne diese Liebe der deutschen Fans, der massiven Unterstützung einiger von ihnen sowie dem überdurchschnittlichen medialen Support des Visions-Magazins würde die Band heute nicht mehr existieren. Das sage nicht nur ich, sondern das erklärte auch der Bassist, Sänger sowie Gründungsmitglied Davo Gould mehrmals in besagtem Magazin. Alle Involvierten bestreiten ihren Lebensunterhalt mit anderen Dingen als MOTHER TONGUE; kehren allerdings immer mal wieder als diese magische Konstellation, die sie nun mal darstellen, zurück. Neun Jahre nach ihrem letzten Besuch nun wieder auf deutschen Bühnen. Anwesenheit war für mich Pflicht – am liebsten hätte ich die ganze Tour mitgemacht. Aus Gründen der Alltagssicherung war dies leider nicht möglich. Wenigstens Aschaffenburg sollte es jedoch sein.

Die Diskographie von MOTHER TONGUE ist nicht besonders umfangreich – gerade einmal vier Studioalben hat die Band, manchmal unter Schmerzen, geboren. Diese waren zwischenzeitlich immer mal wieder nicht lieferbar, weswegen es zum Teil mehrere Versionen dieser Tonträger gibt. Eine Kompilation des Visions, um die Songs wieder Mother Tonguezugänglich zu machen sowie mehrere Kleinst-EPs, welche kurzzeitig zu Tourneen feilgeboten wurden, sind außerdem (mehr oder weniger) verfügbar. Was es allerdings zuhauf gibt, sind komplette Live-Gigs zum Download; sehr viele aus deutschen Clubs (auch aus unserem Einzugsgebiet hier) und alle entstanden vor 2010 (mehr dazu hier). Live schlägt das Herz der Truppe – keines der Studioalben kann gegen die Konzerte anstinken (obwohl das erste und zweite meiner Meinung nach schon großartige Klassiker sind).

Mother Tongue

Zum Erstkontakt mit MOTHER TONGUE wurde ich fast gezwungen. 1994 war das: Noch wurde das Quartett – das ursprünglich 1990 von Gould sowie dem Gitarristen Christian Leibfried und dem Drummer Geoff Haba in Austin, Texas, gegründet wurde, sich einen superben Ruf in der Liveszene dort erspielte Mother Tongueum kurz danach in Goulds Heimat L.A. umzuziehen (wo Goulds Jugendfreund Bryan Tulao an die zweite Gitarre wechselte) – von einer fetten Plattenfirma unterstützt. Sony Music residierte zu dieser Zeit noch in Frankfurt; ich war der Verantwortliche für die Musikseiten eines inzwischen längst nicht mehr existenten Stadtmagazins und hatte einen kleinen Crush auf die Crossover-Szene, die Sony mit Beiträgen aus ihrem Sublabel Dragnet fütterte.

Ein Promoter dort entschied, dass es eine gute Idee wäre, mich auf das Konzert dieser Live-Granaten in den noch relativ neuen Club Nachtleben an der Konstablerwache einzuladen (nebst Fotoerlaubnis und Interviewmöglichkeit) um später, wenn die Band todsicher zurück in größere Hallen käme, ein fettes Feature in einer der zukünftigen Ausgaben erwarten zu Mother Tonguekönnen. Das Debütalbum gab es in CD-Form für mich oben drauf – und ja: Diese Mischung aus bluesigem, intensivem Alternative-Rock mit ganz leichten Funk-Licks gefiel mir gut.

Das Konzert allerdings ließ mich schockverliebt zurück: Diese Energie und Hingabe, diese Freude am Spiel und dieser Seelenstriptease sorgten für eines der tollsten Konzerterlebnisse, welches ich je haben durfte. Und das, obwohl der Club (wenn ich mich recht erinnere) an diesem 1. September nicht sonderlich gut gefüllt war und jede Menge Medienvertreter enthielt, die nicht gerade bekannt dafür sind die Stimmung im Publikum hochzukochen. MOTHER TONGUE waren jedoch nie zwingend auf die Publikumsreaktionen angewiesen und genügten sich in ihrem Austausch, meiner Wahrnehmung nach, immer selbst.

Mother Tongue

Schockverliebt und zum Fan fürs Leben mutiert: Wenn das mal nicht die besten Voraussetzungen dafür waren, eine folgende Weltkarriere mitzuerleben und sogar entscheidend mit ins Rollen zu bringen (Scherz). Wer mich kennt weiß jedoch, dass ich oft für Missgeschicke kleinerer wie größerer Art bekannt bin. Mother Tongue 1994Beim Interview mit meinem Rockgott Lemmy lief das Aufnahmegerät nicht; bei MOTHER TONGUE „pushte“ ich den Film – also belichtete höher – beim Fotografieren (mit Absicht) und vergaß dann (ohne Absicht), dies beim Entwickeln in der damals zuständigen Drogerie mit anzugeben. Ich bekam so komplett überbelichtete Negative, die an der absoluten Unbrauchbarkeit kratzten.

An das Interview kann ich mich nicht mehr erinnern: Es noch einmal anzuhören traue ich mich nicht, weil meine Gesprächsführung meist holprig war und selten Relevantes zum Vorschein brachte (weswegen ich solche Aktivitäten seit einigen Jahrzehnten tunlichst vermeide). Ich konnte es allerdings sowieso nie verwerten, weil die erhoffte Rückkehr in größere Hallen Mother Tongue 1994erstmal ins Wasser fiel. Persönliche Spannungen zwischen Gould und Haba sorgten für elektrisierende Momente bei den Live-Shows, sägten jedoch fundamental an der psychischen Basis aller Beteiligten.

oben und links: Mother Tongue am 1.09.1994 im Frankfurter Club Nachtleben, weitere Bilder in der Slideshow unten

Darüber hinaus ging Sonys Plan nicht auf und die Verkäufe des Debüts blieben Welten hinter den erhofften Absätzen zurück, weswegen zunehmend Unterstützung versagt wurde und das Label die Band nach zwei Jahren droppte. Erste Auflösung also bereits 1998; weitere sollten nach kurzen Reunions, die immer mal wieder stattfanden weil es massive Fanwünsche danach gab, folgen.

Mother Tongue

2002 nahm die Band, inzwischen mit dem Schlagzeuger Sasha Popovic sowie unter widrigen Bedingungen in schmalen Zeitfenstern zwischen Lohnarbeit und Nachwuchspflege das zweite Album „Streetlight“ auf – ein moderner Noir-Klassiker, der es in Punkto Leidenschaft locker mit dem Werk der AFGHAN Mother TongueWHIGS aufnehmen kann. Weniger Blues im musikalischen Sinne, weniger Funk, mehr Schwermut und eine Düsternis, die in direkter Linie von den DOORS abzustammen scheint.

Veröffentlicht wurde das Werk bei dem deutschen Label Noisolution, auf deren Feiern die Band ebenso anzutreffen war/ist wie auf diversen Festivals, die vom Visions kuratiert wurden. Fans halt. Trotzdem können MOTHER TONGUE nicht von ihrer Band leben und sind gezwungen, anderes zur Lebenserhaltung tun zu müssen. Davo Gould hat sich inzwischen eine Stellung als Autor in Hollywood erarbeitet, von der er leben kann; Gitarrist Tulao spielt, wenn er nicht gerade Menschen kunstvoll frisiert, bei den erstklassigen Doomern BLACK MATH HORSEMAN oder tourt unter anderem mit Chelsea Wolfe (Bericht dazu hier).

Mother TongueNachdem ein geplantes Doppelkonzert 2020 im Frankfurter Club „The Cave“ wegen der Corona-Pandemie platzte, tauchten MOTHER TONGUE nach zwei weiteren Platten wieder auf, wobei eine komplett in Eigenregie in Kleinstauflage erschien. Dabei am überraschendsten: Nach diversen Verlusten und hinzu gewonnener Altersmilde raufte sich Gould mit Ex-Drummer Haba wieder zusammen und veröffentlichte sogar neue Musik: Als WEREWOLF ETIQUETTE performt das Duo gitarrenlos fünf saftige Rockklumpen, die schwer dröhnend und leicht psychedelisch beeindrucken und von Noisolution auf Platte gepresst wurden. Somit spielten MOTHER TONGUE mit (fast) sich selber im Vorprogramm.

Nachdem das Konzert in Köln (zugegeben: eine Hochburg von MOTHER TONGUE) im Vorfeld bereits ausverkauft war rechnete ich mit einem großen Ansturm auf den Aschaffenburger Colos-Saal und stand bereits 30 Minuten vor Öffnung vor dem Club. Als einziger fast bis zu Einlass. Drinnen standen Bistrotische – deutlicher Indikator dafür, dass es nicht unangenehm voll werden würde. Die meisten Anwesenden schienen so um die 50 zu sein; einige hatten Nachwuchs dabei. Zum Beispiel der Mann in der Mitte vor der Bühne, dessen elfjährige Tochter fasziniert die Darbietung beobachtete, Luftschlagzeug spielte und schnell die Aufmerksamkeit Goulds auf sich zog.

Werewolf EtiquetteDieser trat pünktlich um 20 Uhr mit seinem alten/neuen Bandmate Geoff Haba auf die Bühne – Gould wie immer am Bass, auf dem der Name seiner Ehefrau Stacy prangt, Haba wie immer am Schlagzeug – wobei dieser mit der rechten Hand außerdem noch ein Keyboard bediente. 20 Minuten lang präsentierte das Duo als WEREWOLF ETIQUETTE den Inhalt ihrer EP, wobei Gould häufig Augenkontakt mit seinem alten Freund/Feind aufnahm. Die Songs sind gut genug für eine energiegeladene Rockshow – kein Vergleich jedoch zu den Hymnen, die später noch kommen sollten. Gerade zehn Minuten wurde pausiert, dann erschienen die Gitarristen Leibfried und Tulao, Schlagzeuger Sasha Popovic und nochmals Gould, der das Publikum zum zweiten Mal an diesem Abend dankbar anlächelte.

Werewolf Etiquette

Mit dem mir unbekannten „Music For Her“ startete der Auftritt; im weiteren Verlauf wurden die ganzen People-Pleaser der ersten drei Alben dargeboten. Als mit „Damage“, „Burn Baby“ und „Broken“ 1994 präsent gemacht wurde, kehrte Ur-Drummer Haba noch einmal hinter die Kessel zurück, die ansonsten Werewolf Etiquettevon Popovic mit unbändiger Lust verprügelt wurden. Die Chemie stimmte wohl, Gould musste ständig selbstvergessen grinsen, wenn er mal das Mikro an einen der Gitarristen abtrat.

Wiederholt beeindruckt zeigte er sich von dem Mädchen in Reihe Eins, das ihn ob ihres Alters an sich selbst erinnerte beim Eintritt in die Welt der Livemusik, wie er dem Publikum zu Protokoll gab. Er hielt ihr das Mikro zum Mitsingen hin, animierte sie zum Zupfen seines Basses und ließ sie irgendwann sogar auf die Bühne heben – gefragt, ob sie das überhaupt wollte, wurde das Mädchen dabei nicht. Was der ganzen Situation einen Hang zur Übergriffigkeit verlieh. Wildfremde Menschen näherten sich dem Mädchen um sie auf die Bühne zu wuchten – was glücklicherweise durch Werewolf Etiquetteden Vater verhindert wurde, der vorher sein OK an Gould gab, ihr auf die Bühne zu helfen. Ob das eher eine beflügelnde oder eine verstörende Erfahrung für das Mädchen war, kann ich nicht beurteilen. Beides halte ich für möglich.

Wer das Werk von MOTHER TONGUE kennt weiß, das ein Gig ohne die Knaller des zweiten Albums nicht vorbei ist. Der Abgang nach „CRMBL“ war dementsprechend klar kein Konzertende. „All Things Crumble but we rise up with the Young“ konstatierte Gould mit Blick auf den jugendlichen Fan vor ihm; um dann festzustellen, dass wir aktuell in den „darkest of times“ leben. Mehr Politik gab es nicht – aber wir wissen ja, was er meint. „Casper“ folgte, der Song, der nicht von dem gleichnamigen freundlichen Geist handelt, sondern einen schmerzenden Verlust beschreibt, den die meisten von uns bereits ertragen mussten. „Everybody knows somebody dead that should be alive“ heißt Mother Tonguees da – zum ersten Mal fühlte ich es auf einem MT-Konzert und fing an zu heulen.

Die zweite Zugabe durfte nicht enden ohne „FTW“ (Fuck Their World). Damit war der Sack dann auch zu, nach knapp 90 Minuten. Früher ging es länger, aber die 20 Minuten WEREWOLF ETIQUETTE muss man ja dazu zählen. Früher spielten die Jungs mit freiem Oberkörper. Zeiten ändern sich, nicht immer nur zum Schlechten. MOTHER TONGUE haben immer noch diese Magie und spielen jeden Gig wie um ihr Leben, weswegen man nur jedem raten kann, diese Band aufzusuchen, wenn sie vorbeikommt. Das Gitarrist Leibfried „Rücken“ hat, war darüber hinaus nicht zu übersehen und nötigt noch mehr Respekt für diese kraftvolle wie inspirierende Performance ab. MOTHER TONGUE – immer noch eine Lieblingsband. Ich verneige mich.

 
Text & Fotos: Micha
 
Alle Bilder:

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